Häftlingsradio auf Empfang

Es sollte in der Lagerlatrine des kommunistischen Arbeitslagers Rovnost bei Jáchymov, früher St. Joachimsthal, verschwinden. 1957 wurde es dort hastig von Pfadfinder und Häftling Miroslav Kopt entsorgt, nachdem er das Radio zerstört und demontiert hatte. Die Rede ist von einem heimlich hergestellten Gerät, mit dem die Häftlinge zwei Jahre lang Radio Free Europe empfangen hatten.

Es war ein kleines Wunder und eine große Ermutigung. Die Gegner des kommunistischen Regimes bauten eigenhändig ein Radio in Form eines Batterieempfängers mit Elektronenröhren im Arbeitslager Nikolaj, später sogar noch einen Netzempfänger im Lager Rovnost („Gleichheit“). Beide Radios wurden nie entdeckt, sondern im Gegenteil von den Häftlingen selbst zerstört, als das Ganze drohte herauszukommen, und nie von den Aufsehern gefunden. Im Frühjahr 2020 wurde ein originalgetreuer Nachbau des Netzempfängers fertiggestellt und die Geschichte der vergessenen Brücke zu freien Informationen wurde wieder lebendig – in Gestalt eines Bildungsprojekts, das bayerische und tschechische Schüler zusammenbrachte.



Fangen wir aber von vorne an. Der historische Radioclub der Tschechoslowakei (Historický radioklub československý) ist ein Verband von Radioliebhabern, der die Zeitschrift Radiojournal herausgab. In der Ausgabe 77 / 2012 veröffentlichte die Redaktion einen Artikel von Radek Pavlovec mit dem Titel Geheime Rundfunkempfängergeräte in einem unfreien Land, in dem der Autor beschrieb, wie er zwei Radios in den Lagern in Jáchymov konstruiert hatte. Eben dieser Herr Pavlovec (29.7.1931 – 12.5.2003), ein erfahrener Pfadfinder und Häftling, hatte im Juni 1955 auf Anregung mehrerer Mithäftlinge aus der Reihe der Elite der Ersten Tschechoslowakischen Republik das erste Gerät zum Leben erweckt. In seinem Artikel beschreibt er detailliert, welche Bestandteile er damals dank seines Freundeskreises von verlässlichen Kollegen und zivilen Bergarbeitern der Jáchymover Minen beschafft hatte. Im September 1955 hatte er noch ein zweites Geheimradio gebaut, diesmal mit Netzantrieb; mit Elektronenröhren und Tauschspulen. Sein Artikel enthält auch ein genaues Schema, dank dessen man sich die Herstellung des Rundfunkempfängers gut vorstellen und gegebenenfalls auch realisieren kann. Das einzige Problem dabei ist, dass das originale, historische Material schon seit vielen Jahren nicht mehr verfügbar ist.

Es war ein klassischer Radioempfänger. Hergestellt wurde er von Radko Pavlovec, der in Jáchymov wegen eines missglückten Fluchtversuchs aus der Tschechoslowakei einsaß. Im Lager Nikolaj kam er in eine Gemeinschaft von politischen Gefangenen, die es mit großer Ernsthaftigkeit verstanden, antikommunistische Häftlinge um sich herum zusammen zu bringen. Diese Gemeinschaft bemühte sich natürlich um unabhängige Informationen über die Lage in der Tschechoslowakei und im Ausland. Das Geheimradio war eine der Möglichkeiten, diese ausfindig zu machen,“ erklärt Miroslav Kopt (85), mit dem wir in der Anfangszeit der Corona-Krise im April 2020 ein Interview über das geheime Häftlingsradio geführt haben.

Beide Radios liefen in den Jahren 1955 bis 1957 sehr verlässlich und ein beträchtlicher Teil der politischen Gefangenen wurde so von den westlichen Sendern informiert. Laut Kopt war das erste Radio für Dr.med Jan Šmíd bestimmt, einen ehemaligen Freund der Familie des ersten tschechoslowakischen Präsidenten T.G. Masaryk. Dieses Radio wurde um die Jahreswende von 1956 bis 1957 in der Sanitätsbaracke des Lagers Rovnost betrieben. Heute ist Kopt der einzige lebende Zeitzeuge, der mit den geheimen Geräten und deren Herstellung direkt in Kontakt kam. „Wir haben unsere Netze unter zuverlässigen Mithäftlingen ausgeworfen und nach Bestandteilen gesucht. Die Elektronenröhren nahmen wir von Messgeräten für Uranerz, Bestandteile für die Regler wurden in Eigenarbeit aus Rasierklingen hergestellt, anderes wurde aus den Bergbauwerkstätten und von Zivilisten eingeschmuggelt,“ erinnert sich der Pfadfinder und ehemalige Häftling. „An der Ingangsetzung des Radios nahmen die politischen Gefangenen Číla, Syrovátka, Šádek, Blatný, Drahota, Fišer, Stodůlka und andere teil. Innerhalb weniger Monate waren beide Radios fertig und es musste nur noch ein Ort gefunden werden, wo wir sie betreiben konnten. Radek arbeitete in der Elektrowerkstatt in der Grube Eduard, in einer separaten Bergwerksbaracke. Dort entschieden die Häftlinge, den 25 x 20 cm großen Kasten hinter einem Wandschirm aufzustellen, wo die Aufseher keinen Zugang hatten. Das Radio wurde auch im Lager der Bergbauschlosser und beim Ladegerät im IV. Stock des Schachtes gehört. Dank der Disziplin aller Genannten konnte die ganze Sache zwei Jahre  lang geheim gehalten werden. Dann zerstörte ich das Gerät, weil wir Verdacht schöpften, dass wir angezeigt wurden,“ fügt Kopt hinzu, der im Anschluss eine ganze Reihe von Verhören und halbjährige Ermittlungen über sich ergehen lassen musste. Erfolglos. Die Radios wurden nicht gefunden, und das kommunistische Regime erfuhr keinerlei Einzelheiten darüber.



Das Radio als Werkzeug für die Bildungs- und Versöhnungsarbeit

Die Idee für den Nachbau des Häftlingsradios entstand im Verein Političtí vězni.cz („Politische Gefangene“), der in Jáchymov auch schon den Lehrpfad Joachimsthaler Hölle (Naučná stezka Jáchymovské peklo) erneuerte und Jugendliche sowie Erwachsene durch die historischen Orte von Uranminen und Lagern führt. Die originalen Bestandteile und das Know-how trug der Vereinsvorsitzende Tomáš Bouška mit Hilfe von Milan Matějů, dem Enkel eines anderen inhaftierten Radioliebhabers, und Miroslav Kopts Freunden zusammen. Im Frühjahr 2020 baute er das Radio dann auf, ein weiterer Freiwilliger, Tomáš Roubíček, erprobte und verbesserte es. „Ich beschäftige mich schon lange mit Elektrotechnik, mache das auch beruflich, aber das war so ein Blick in die Vergangenheit und zusätzlich noch in einen Bereich, mit dem ich mich sonst nicht befasse. Mit Elektronenröhren hatte ich vorher nie gearbeitet, normalerweise lernt man darüber auch nichts mehr, und auch ein komplexeres Radios hatte ich nie gebaut, also war es eine ziemliche Herausforderung für mich. Ich wollte aber die gute Sache unterstützen und letztendlich haben wir es geschafft,“ so Tomáš Roubíček über seine Schlüsselrolle im Projekt.

Parallel zu den eigenen Bemühungen um den Nachbau des Radios nach dem Schema von Radek Pavlovec sprachen die Freiwilligen vom Verein Političtí vězni.cz die Projektreferentinnen für Gedenken und Versöhnung im Dekanat Weiden in der Oberpfalz und in der Pfarrgemeinde der Evangelischen Kirche der Böhmischen Brüder in Aš an. Tanja Fichtner und Libuše Kučerová, beauftragt mit der kirchlichen Jugendarbeit in den Grenzgebieten, nahmen diese Herausforderung an und beschlossen, das Bildungsprojekt mit deutsch-tschechischen Schülern „Dinge, für die es sich lohnt… bedingungslos einzustehen“ in Jáchymov im Erzgebirge im Oktober 2019 ein weiteres Mal durchzuführen. Das Schulprojekt wurde vom Programm Ziel ETZ der Europäischen Union und dem Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds gefördert. Das Projekt war etwas ganz Besonderes, weil es Berufsschüler von beiden Seiten der Grenze zusammenführte: junge Metallbauer aus Wiesau und Oselce halfen einem Zeitzeugen, seinen langgehegten Traum zu verwirklichen. Dieser Zeitzeuge war natürlich Miroslav Kopt. Er traf sie im Rahmen eines geführten Rundgangs des Vereins Političtí vězni.cz direkt in dem ehemaligen kommunistischen Lager und erzählte den Schülern, wie die politischen Gefangenen im Arbeitslager das Radio heimlich bauten, um westliche Sendungen von Radio Free Europe hören zu können, das damals aus ihrer Heimat sendete - aus München in Bayern. „Wir waren immer sehr gut über die politische Weltlage informiert, oft besser als die normale tschechische Bevölkerung außerhalb des Lagers," illustriert Miroslav Kopt die geschichtlichen Zusammenhänge der geheimen Tätigkeit in den Lagern.

Er beschrieb den Schülern auch anschaulich, wie irgendjemand seine Häftlingsgruppe nach zwei Jahren mit dem geheimen Radio anzeigte und sie dann das Radio schnell zerstören mussten, damit es nicht in die Hände der Aufseher fiel. Es war ein langgehegter Wunsch von Kopt, einen Nachbau des Häftlingsradios für seine Erinnerungs- und Zeitzeugenarbeit nutzen zu können. Dank der Metallbauer der beiden Berufsschulen kam er diesem Ziel dann endlich näher. Ergebnis ihrer Teilnahme war nämlich der originalgetreue Nachbau des Kastens aus Metall, welcher das Gehäuse des Radios bildet. Die Häftlinge hatten es ursprünglich aus der Bakelitverpackung der Traktionsbatterie einer Grubenlokomotive gefertigt. Studiendirektor Hartmut Seidler sowie seine Kollegen Matthias Achatz, Matthias Bartmann, Eva Schicker, Pavel Komárek und Jiří Wallner hatten sich im Vorfeld intensiv mit den historischen Bauplänen beschäftigt, die der ehemalige Häftling veröffentlicht hatte und die sie dank der Vermittlung des Vereins erhalten hatten. „Das Projekt war anspruchsvoll, weil das historische Material, vor allem für das technische Innenleben des Radios, nicht mehr verfügbar war,“ berichtet Hartmut Seidler. "Wir haben uns schließlich mit dem Zeitzeugen darauf geeinigt, zunächst das Gehäuse aus Aluminium zu fertigen, weil das im Laufe einer Projektwoche möglich war."

Bevor es gemeinsam in die Werkstätten ging, stand ein Workshop in der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg auf dem Programm. Hier ging es um Handlungsmöglichkeiten der findigen tschechischen Zivilbevölkerung, die in den letzten Kriegstagen zahlreiche KZ-Häftlinge aus einem Todeszug aus dem Flossenbürger Außenlager Leitmeritz befreit hatte. Das Thema der Schülerbegegnung „Dinge, für die es sich lohnt… bedingungslos einzustehen“ gewann dann durch den Terroranschlag von Halle zusätzliche Aktualität. Die Abschlusspräsentation in Wiesau begann deshalb mit einer Schweigeminute für die Opfer - die Vergangenheit war hier leider in einem ganz aktuellen Kontext wieder lebendig geworden.

So kam es also, dass die Staatliche Berufsschule Wiesau und die Mittel- und Grundschule Oselce ihren Teil zur Herstellung des originalgetreuen Nachbaus des geheimen Radios beitrugen. Der Nachbau wurde im Mai 2020 erfolgreich fertiggestellt und getestet – am Sitz des Vereins Političtí vězni.cz in Prag. Dank der Funktionstüchtigkeit des Radios haben sich die Engagierten des Vereins nun ein Folgeprojekt ausgedacht, mit dem sie die Aufmerksamkeit deutscher und tschechischer Pfadfinder sowie einer breiteren Öffentlichkeit gewinnen wollen. Anfang September 2020 wird dieses Projekt vorgestellt, und wir sind auf jeden Fall dabei!